28. Kapitel
Patrick legte die Feder beiseite und verharrte reglos, während er auf die Seiten vor sich starrte. Er bewegte sich nicht, aus Angst, dass die tiefe Freude, die durch seine Adern pulsierte, sich bei der leisesten Regung wieder verflüchtigen könnte.
Er hatte wieder zu dichten begonnen. Seitenweise strömten die Worte aus seiner Feder, als wäre ein Damm gebrochen.
Es war so lange her... fast ein Jahrhundert. Er hatte schon geglaubt, die Muse habe ihn ganz verlassen, doch nun flössen die Worte wieder. Er konnte nicht länger stillhalten, und ein glückliches Strahlen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Es fühlte sich an wie... eine Heimkehr.
»Viol-« Er hielt inne. Violet. Sie war der Grund dafür, dass es ihm nach fast einem Jahrhundert wieder gelang zu dichten. Sie war ein Teil von ihm, jener Teil, der es ihm ermöglichte, Worte zu schreiben, die ihn mit Freude erfüllten. Mit Leidenschaft.
Sie war seine Muse. Der Gedanke war beunruhigend. Wie hatte es so weit kommen können, dass sie so wichtig für ihn geworden war? Er fand keine Erklärung dafür. Sie war eine Schönheit, gewiss, sie war stark und begabt und intelligent... war es ihre Blindheit? Sie rief ein starkes Bedürfnis in ihm hervor, sie zu beschützen.
Und doch wusste er, dass sie durchaus in der Lage war, allein zurechtzukommen. Sie brauchte ihn nicht. Weder seinen Schutz noch sein Geld noch seinen Einfluss... sie wollte nichts von ihm. Mein Gott, er musste sie fast zwingen, seine Geschenke anzunehmen!
Patrick runzelte die Stirn. Er wollte aber, dass sie ihn brauchte.
Doch vielleicht war es gerade die Tatsache, dass sie ihn nicht brauchte, dass sie nichts von ihm wollte, außer mit ihm zusammen zu sein, die ihn so an sie fesselte. Er begehrte sie wie keine andere.
Ja, er begehrte sie. Dabei wollte er es belassen und nicht weiter darüber nachdenken.
»Patrick?«
Violets Stimme drang durch die Tür seines Arbeitszimmers. Mit wenigen Schritten war er dort und öffnete ihr.
»Genau die Frau, die ich gesucht habe«, sagte er.
Violet lächelte scheu. Sie hatte ein Buch in der Hand. Patrick vermutete, dass sie gehört hatte, wie er sie beinahe gerufen hätte. Die Bibliothek war schließlich nicht weit von seinem Arbeitszimmer entfernt.
»Bist du wieder in der Bibliothek gewesen?« Er hatte sie mehrmals dort gefunden, entweder still in einem Sessel sitzend oder interessiert die Bücher betastend.
Sie wirkte einen Moment lang verlegen, dann straffte sie die Schultern und zeigte ihm das Buch, das sie dabeihatte. »Ich mag den Geruch. Der Bücher, meine ich. Jedes hat seinen ganz besonderen Geruch. Das hier zum Beispiel riecht nach Schottland. Ist es vielleicht dort gebunden worden?«
Patrick nahm ihr Krieg der Clans aus der Hand und strich mit dem Finger über den zerfransten Buchrücken. Es war nicht nur in Schottland gebunden worden, Patrick hatte es auch dort geschrieben. Wortlos gab er es ihr zurück.
»Du hast wahrscheinlich zu tun...«, sagte sie zögernd. Sie sah aus, als wollte sie gehen. Patrick konnte sich auf einmal nichts Schlimmeres vorstellen.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Gern!«, sagte Violet überrascht. »Wenn du Zeit hast?«
Patrick hatte zwar zu arbeiten, tatsächlich hatte er seine Arbeit den ganzen Vormittag vernachlässigt, doch die Papiere konnten auch noch ein wenig länger warten.
»Natürlich. An der Haustür, in zehn Minuten?«
Sie war wie der Blitz verschwunden. Patrick schritt lächelnd in die Eingangshalle und nahm seinen Mantel vom Haken. Er lächelte viel, seit er Violet im Haus hatte.
Es war nicht weit zum Hyde Park.
»Wie schön«, sagte Violet, und die tiefe Freude in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Sie sah atemberaubend aus in dem weißen, pelzverbrämten Mantel, den er ihr vor ein paar Tagen gekauft hatte. Ihr langes schwarzes Haar flatterte im Wind, und ihre grünen Augen leuchteten wie die Smaragde am Turban eines osmanischen Sultans, den Patrick kannte.
Selbst nach all diesen Wochen fiel es Patrick schwer zu glauben, dass diese schönen Augen nichts sehen konnten.
»Findest du es nicht schön?«
Die Frage riss Patrick aus seinen Gedanken. Er sah zu, wie Violet die Bäume berührte, an denen sie vorbeikamen.
Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Aber das war egal, er war ihrer Meinung: Sie war wunderschön.
»Doch, sehr.«
Lachend wandte sie sich ihm zu. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört, oder?«
Patrick mimte den Unschuldigen. »Keine Ahnung, was du meinst.«
Violet drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Du bist unmöglich. Aber ich vergebe dir trotzdem, allerdings nur, weil du mit mir hierhergekommen bist!«
»Ach ja?« Patrick fing ihre Hand ein und zog sie in seine Arme. »Und wo bleibt dann mein Dankeschön?«
Sie wurde ganz still und hob das Gesicht zu ihm auf.
»Danke«, sagte sie leise. Die Intensität dieser Dankbarkeit ernüchterte Patrick. Es war so leicht, Violet glücklich zu machen. Was musste sie für ein Leben gehabt haben, wenn schon so kleine Aufmerksamkeiten sie so glücklich machten? Patrick schreckte vor dem Gedanken zurück.
»Ich bin derjenige, der dir danken sollte«, flüsterte er und streichelte ihre Wange.
»Wofür?«, fragte sie verwirrt.
»Dafür, dass du mir eine Chance gibst, Violet. Ich kann sehen, wie überrascht du bist, wenn ich dir ein Kompliment mache. Du scheinst nicht zu wissen, wie schön du bist, wie stark...«
»Nicht!« Violet machte sich erschrocken von ihm los. Er musste vorsichtig sein. Langsam vorgehen. Sich Zeit lassen.
Und er wollte sich Zeit mit ihr lassen.
Wo kam dieser Gedanke auf einmal her? Patrick wich selbst einen Schritt zurück. Violet hatte sich zum Glück bereits abgewandt und war ein Stück weitergegangen.
Was war bloß los mit ihm? Sie war seine Mätresse. Sie würden zusammenbleiben, so lange sie beide es wollten. Dann würden sie getrennte Wege gehen. Und er würde dafür sorgen, dass sie nie wieder arbeiten musste. Und wenn sie noch so oft sagte, dass sie sein Geld nicht wollte!
»Patrick! Komm schnell!«
Patrick eilte zu der Stelle, an der Violet auf der Erde kniete. Natürlich würden sie getrennte Wege gehen. Aber warum war ihm der Gedanke, dass Violet die Mätresse eines anderen werden könnte, dann so unerträglich?
Patrick beugte sich zu Violet herab. »Was ist?«
Violet hatte ein kleines braunes Pelzbündel in den Armen. »Es ist so winzig, Patrick, und es zittert vor Kälte.«
Patrick schaute in das kleine pelzige Gesicht eines Kätzchens. Er seufzte.
»Wir können es nicht hierlassen«, beharrte Violet und rieb ihre Nase an dem flauschigen Tierchen. Patrick hörte es schnurren und merkte, wie er weich wurde. Wie sollte er ihr je etwas abschlagen?
»Wie sollen wir es nennen?«
Violet schaute verblüfft zu ihm auf, dann breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus, das ihm den Atem raubte.
»Könnten wir es Bess nennen?«
Er beugte sich vor und drückte ihr einen warmen Kuss auf die Lippen. »Also gut, Bess.«